In der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof bei Idstein starben von 1933 bis 1945 über 800 Menschen. Ein Großteil von ihnen wurde in den Kriegsjahren (1939– 1945) im Zuge der nationalsozialistischen „Kindereuthanasie“ und der dezentralen „Euthanasie“ ermordet. Daneben diente der Kalmenhof während der „Aktion T4“ als sogenannte Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar.

Die hier vorgestellten Einzelschicksale stehen stellvertretend für die vielen weiteren Menschen, die auf dem Kalmenhof ermordet oder über den Kalmenhof in den Tod geschickt wurden.

Wilhelm Kleinschmidt

Wilhelm Kleinschmidt wurde am 2. Mai 1900 in Kassel geboren. Nach der Schule absolvierte er eine Schlosserlehre. Als er in diesem Beruf keine Anstellung fand, arbeitete er als Gas- und Stromableser sowie als Gelderheber bei der Stadt Kassel – eine Arbeit, die er gewissenhaft und verantwortungsbewusst ausübte. 1922 heiratete er die Weberin Marie Siemon. Die beiden bekamen drei Kinder.

1935 erkrankte Wilhelm Kleinschmidt. Er klagte über Appetitlosigkeit und Schlafstörungen. Nach einem Suizidversuch wurde er im September des Jahres in das Karlshospital in Kassel eingewiesen und kam von dort aus in die Landesheilanstalt Marburg. Zwischen 1937 und 1939 lebte er abwechselnd bei seiner Familie in Kassel und in der Landesheilanstalt Marburg. Im März 1939 kam er in die Landesheilanstalt Haina. Bis zu einer Verletzung am Bein arbeitete er auch immer wieder in der anstaltseigenen Schlosserei. Eine Tätigkeit an der er sehr viel Freude hatte. Danach verschlechterte sich sein Zustand. In der Krankenakte notierte das Hainer Personal, dass Wilhelm Kleinschmidt zur geringsten Hausarbeit angehalten werden müsse. Er sei nicht in der Lage, „von selbst eine Arbeit zu verrichten“.

Am 5. Juni 1941 wurde er von Haina nach Idstein verlegt. Von dort kam er am 25. Juni 1941 nach Hadamar und wurde noch am selben Tag in der Gaskammer der Tötungsanstalt ermordet.

Nach Kriegsende beantragte die Witwe Marie Kleinschmidt eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Ihr Antrag wurde abgelehnt, unter anderem deshalb, weil nicht nachgewiesen sei, „dass der Ehemann aus einem der im Gesetz angeführten Gründe“ gestorben sei. Denn Menschen, die aufgrund von Behinderungen oder psychischen Erkrankungen verfolgt und ermordet worden waren, galten laut diesem Gesetz nicht als Verfolgte des Nationalsozialismus.

Quellen: BArch R 179/ 1334; GESCHICHTE UND GEDENKEN – Orte der „Euthanasie“-Verbrechen in Hessen, LWV Hessen und Vitos GmbH (Hrsg.), Kassel 2019, Stolpersteine in Kassel – Wilhelm Kleinschmidt: hier online verfügbar.

Historisches Foto eines Ehepaars. Links die Frau im schwarzen Kleid, rechts der Mann, im Anzug mit Hemd und Krawatte. Die Frau hat ihren Arm beim Mann eingehängt.
Wilhelm Kleinschmit mit seiner Frau, Datum unbekannt, Foto: Privat

Anneliese Cohn

Anneliese Cohn wurde am 23. April 1919 in Rheda – in der Nähe von Gütersloh – geboren. Ihre Familie war jüdischen Glaubens. Sie hatte einen älteren Bruder, Siegfried, und eine ältere Schwester, Edith. Im Alter von acht Jahren starb ihr Vater, Hugo Cohn. Ihre Mutter, Rosalie Cohn, heiratete danach erneut und zog mit ihrem Mann nach Wuppertal.

Anneliese hatte eine geistige Behinderung wegen der sie im März 1929 in die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein kam. Die ursprünglich interkonfessionelle Einrichtung bot jüdischen Kindern und Jugendlichen eine Unterbringung an, die jüdische Religionsvorschriften berücksichtigte. So gab es beispielsweise eine Verpflegung mit koscherem Essen.

Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen und der Kalmenhof „gleichgeschaltet“ – also nach nationalsozialistischen Vorstellungen ausgerichtet wurde –, änderte sich dies grundlegend. In den darauffolgenden Jahren verließen immer mehr jüdische Zöglinge die Einrichtung.

Anneliese blieb bis zum 18. September 1935 auf dem Kalmenhof. Sie wurde als „gebessert“ in das Erziehungsheim Beelitz verlegt. Dieses Erziehungsheim war 1908 als jüdische Einrichtung gegründet worden. Träger war der Deutsch-Israelitische Gemeindebund – eine überregionale Dachorganisation jüdischer Gemeinden – in Berlin. Genau wie der Kalmenhof diente die Einrichtung der Unterbringung, Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen.

Wie lange Anneliese dort blieb, ist unklar. Irgendwann kam sie zurück zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nach Wuppertal. Von Wuppertal aus wurden die drei am 24. Oktober 1941 über Düsseldorf in das Ghetto Lodz/Litzmannstadt deportiert. Im Januar 1942 begannen dort die ersten Verlegungen in das 70 Kilometer entfernte Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof. Anneliese Cohn wurde am 11. September 1942 dorthin deportiert. Sie wurde am nächsten Tag im Alter von 23 Jahren in einem Gaswagen ermordet. Von ihrer Familie überlebte nur der älteste Bruder Siegfried.

Quelle: Aufnahmebuch 01.01.1934-30.11.1938, LWV-Archiv Bestand B 81 Nr. 189, Stadt Rheda-Wiedenbrück (Hg.): Stolpersteine Rheda-Wiedenbrück, Rheda-Wiedenbrück 2018.

Stolperstein mit Inschrift: "Hier wohnte Anneliese Cohn. Jg. 1919. Deportiert 1941. Lodz/ Litzmannstatt. Ermordet 12.09.1942. Chelmno."
Stolperstein von Anneliese Cohn in der Schwanenstraße 26a in Wuppertal-Elberfeld. Foto: Perrin_42 (CC BY-SA 3.0)

Elly Ortmanns

Elly Ortmanns wurde am 12. Februar 1939 in Aachen geboren. Nach Aussage ihrer Eltern litt sie an Krampfanfällen, die eine spastische Lähmung und Entwicklungsverzögerungen nach sich zogen. Als die Familie 1943 während eines Bombenangriffs ihre Wohnung verlor und obdachlos wurde, sollte die zu diesem Zeitpunkt schwangere Mutter – der Vater war als Soldat im Krieg – mit ihren Kindern im Rahmen der Kinderlandverschickung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) evakuiert werden. Elly durfte sie nicht mitnehmen. Sie kam zuerst in das Heim der Schwestern „vom armen Kinde Jesu“ in Eupen – und auf Empfehlung der Schwestern im November 1943 in die Rheinische Landesklinik Bonn. Zwei Wochen nach der Verlegung nach Bonn schrieb die Mutter, ihre Lage habe sich verbessert und sie könne ihre Tochter nun wieder zu sich holen.

In der Rheinischen Landesklinik erklärte man sich einverstanden mit der Rückverlegung, solange „geordnete häusliche Verhältnisse“ von der Stadt Aachen bestätigt würden. Die Stadt tat dies nicht und bat vielmehr darum, wegen der schlechten Wohnungs- und Versorgungsverhältnisse eine „geeignete Anstalt zu bestimmen, der das Kind zugeführt werden kann.“

In Bonn wurde daraufhin die Verlegung in den Kalmenhof in Idstein vorbereitet. Am 24. März 1944 kam Elly Ortmanns mit 19 weiteren Kindern in einem Transport in die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof, wo sie 14 Tage nach der Aufnahme in die „Kinderfachabteilung“ – angeblich an einer Lungenentzündung – starb.

Quelle: HHStAW Bestand 461 Nr. 31526/5, Linda Orth (1989): Die Transportkinder aus Bonn. „Kindereuthanasie“, Köln.

Karl Heinz (Ludwig Heinrich) Lohne

Karl Heinz Lohne wurde am 5. Januar 1925 in Kassel geboren. Mitte 1931 kam er in die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof. Seine Mutter war verstorben und nach eigenen Angaben war ihm über seinen Vater nichts bekannt. Karl Heinz ging auf dem Kalmenhof zunächst in die Schule, bevor er ab 1939 auch Tätigkeiten in der hauseigenen Schreinerei übernahm.

Mit gerade einmal 17 Jahren wurde er ab 1941 schließlich als „Totengräber“ eingesetzt und musste die Leichen aus dem Kalmenhof-Krankenhaus transportieren, zu ihrem Begräbnisplatz bringen und beerdigen. Außerdem half er regelmäßig im Krankenhaus aus und wurde dort Augenzeuge der begangenen Verbrechen.

Karl Heinz sagte später aus, dass der Anstaltsarzt Hermann Wesse aus diesem Grund versucht habe, ihn kurz vor Kriegsende zu ermorden. Es gelang ihm jedoch zu fliehen und sich versteckt zu halten, bis die Amerikaner Idstein befreiten. Im Rahmen von Ermittlungen zu den „Euthanasie“-Verbrechen auf dem Kalmenhof und auch auf dem späteren Frankfurter Kalmenhof-Prozess wurde Karl Heinz als Zeuge vernommen.

In den 1980er Jahren – als die Fläche des ehemaligen Anstaltsfriedhofs in eine Kriegsgräberstätte umgewandelt werden sollte – half er dabei, das Gräberfeld zu lokalisieren.

Karl Heinz Lohne erlebte in seiner Zeit auf dem Kalmenhof viel Gewalt, häufig von dort arbeitenden Pflegekräften. Die Erlebnisse hatten sowohl körperliche als psychische Folgen für ihn. Insbesondere seine Frau war ihm in den darauffolgenden Jahrzehnten eine große Stütze.

Quelle: HHStAW Bestand 461 Nr. 31526/1, Dorothea Sick (1983): „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofs in Idstein im Taunus, Frankfurt.