In der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof bei Idstein starben von 1933 bis 1945 über 800 Menschen. Ein Großteil von ihnen wurde in den Kriegsjahren (1939–1945) im Zuge der nationalsozialistischen „Kindereuthanasie“ und der „dezentralen Euthanasie“ ermordet. Daneben diente der Kalmenhof während der „Aktion T4“ als sogenannte Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar.
Der Kalmenhof und die „Aktion T4“ (1941)
Das zentral gesteuerte, geheime Mordprogramm an Patientinnen und Patienten von Heil- und Pflegeanstalten sowie Behinderteneinrichtungen im Deutschen Reich begann im Januar 1940. Unter dem Deckmantel verschiedener Tarngesellschaften richtete die „T4“-Zentrale in Berlin insgesamt sechs Tötungsanstalten ein: zunächst in Grafeneck, Brandenburg, Pirna-Sonnenstein, Hartheim (heute Österreich), dann in Bernburg und zuletzt in Hadamar. Die „T4“-Zentrale regelte außerdem die Rekrutierung des Personals, die Auswahl möglicher Opfer und ihre Transporte in die jeweiligen Tötungsanstalten.
Die Auswahl geschah über eine flächendeckende Erfassung durch „Meldebögen“. Ausgefüllt von allen damaligen Anstalten – in Idstein durch die Anstaltsärztin Mathilde Weber – wurden die Bögen zurück nach Berlin geschickt und von dort an „Gutachter“, vielfach Psychiatrieprofessoren und Anstaltsleiter, verteilt. Sie entschieden über Leben und Tod.
Busse holten die ausgewählten Patientinnen und Patienten danach aus ihren Anstalten ab. Im Verlauf der „Aktion T4“ entwickelte sich ein Verlegungssystem über sogenannte Zwischenanstalten. Diese dienten als Sammelpunkt vor dem Weitertransport in eine Tötungsanstalt. Gleichzeitig waren sie ein Instrument der Verschleierung, denn über sie wurde die Kommunikation mit den Angehörigen geregelt bis die Todesnachricht aus der Tötungsanstalt eintraf.
Am 13. Januar 1941 wurde die Landesheilanstalt Hadamar zu einer „T4“-Tötungsanstalt. Der Kalmenhof in Idstein übernahm in diesem Rahmen die Funktion einer Zwischenanstalt. Von hier aus transportierten die Verantwortlichen über 700 Patientinnen und Patienten in die Tötungsanstalt Hadamar. Zunächst wurden über 230 eigene „Zöglinge“ verlegt, die bereits längere Zeit auf dem Kalmenhof lebten. Dann folgten größere Sammeltransporte aus Wunstorf, Goddelau, Haina und Gütersloh.
Die Transporte geschahen dabei nicht im Geheimen, sondern in aller Öffentlichkeit, hatte doch der Kalmenhof das „Altenheim“-Gebäude unweit des Bahnhofs für diesen Zweck ausgewählt. In dem überfüllten Haus warteten die Patientinnen und Patienten auf ihren Weitertransport nach Hadamar.
In der Tötungsanstalt ermordeten Hadamarer Ärzte die Patientinnen und Patienten am Tag ihrer Ankunft in der Gaskammer mit Kohlenmonoxyd. Die „Aktion T4“ endete am 24. August 1941.
Literatur: Harald Jenner, Christoph Schneider: Abschlussbericht des Forschungsprojekts zur Erhebung sowie Interpretation der historischen Kerndaten zum Verbrechenskomplex Kalmenhof, insbesondere der Lokalisierung der Tötungszimmer der „Kinderfachabteilung“ sowie der vermuteten Gräberfelder auf dem Kalmenhof, hier online verfügbar.
Georg Lilienthal, Gaskammer und Überdosis. Die Landesheilanstalt Hadamar als Mordzentrum (1941–1945), in: Uta George u. a. (Hg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 156–175.
Dorothea Sick (1983): „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofs in Idstein im Taunus, Frankfurt.
Dezentrale „Euthanasie“ (1939–1945)
Bereits einen Monat nach Kriegsbeginn wurde auf dem Gelände der Heilerziehungsanstalt ein Reservelazarett eingerichtet. Innerhalb kürzester Zeit musste Platz für verwundete Soldaten geschaffen werden. Bis Kriegsende wurde der Kalmenhof immer wieder als Lazarett oder Nachrichtenstandort der Wehrmacht genutzt. Das hatte Auswirkungen auf die Anstalt: Das Lazarett verdrängte die „Zöglinge“ aus diversen Gebäuden. Sie wurden in den verbliebenen, oft überfüllten Räumlichkeiten untergebracht. In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn schnellten die Sterbezahlen in die Höhe, was eine gezielte Vernachlässigung und vorenthaltene medizinische Betreuung bei Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten nahelegt.
Nach dem plötzlichen Stopp der „Aktion T4“ im Sommer 1941 starben viele der eigentlich zum Weitertransport nach Hadamar vorgesehenen Patientinnen und Patienten in Idstein. Sie wurden vermutlich durch überdosierte Medikamente und gezielte Mangelversorgung getötet. Dabei lag keine zentrale Anweisung für die Ermordung vor. Die Verantwortung lag bei dem medizinischen Personal vor Ort und dem Bezirksverband Nassau.
Zwischen Ende 1941 und Anfang 1942, nach dem Abbruch der „Aktion T4“, wurde der Kalmenhof zu einem Tatort der zentral aus Berlin gesteuerten „Kindereuthanasie“. Doch nicht alle Todesfälle der darauffolgenden Jahre lassen sich der „Kindereuthanasie“ zuordnen. Vielmehr kam es auf dem Kalmenhof zu einer eigenständigen Ausdehnung der „dezentralen Euthanasie“-Verbrechen. „Zöglinge“, die anstaltsinterne Abläufe störten, weil sie einen höheren Pflegeaufwand benötigten, nicht arbeiten konnten, oder sich der Anstaltsordnung nicht unterordneten, wurden intern selektiert und ermordet. Sie wurden regelmäßig unter einem Vorwand in das anstaltseigene Krankenhaus bestellt und dort mit Medikamenten getötet.
In der Regel wurden Angehörige über das Schicksal ihrer Familienmitglieder belogen. Kurz vor, teilweise auch erst nach dem Tod ihrer Verwandten erhielten sie die Nachricht, dass diese schwer erkrankt seien. Die Todesursache wurde anschließend falsch angegeben, um Angehörige und Behörden zu täuschen.
Von Kriegsbeginn bis März 1945 fielen auf dem Kalmenhof über 700 Menschen – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – der NS-Psychiatrie-Politik und der „Euthanasie“ zum Opfer.
Literatur: Harald Jenner, Christoph Schneider: Abschlussbericht des Forschungsprojekts zur Erhebung sowie Interpretation der historischen Kerndaten zum Verbrechenskomplex Kalmenhof, insbesondere der Lokalisierung der Tötungszimmer der „Kinderfachabteilung“ sowie der vermuteten Gräberfelder auf dem Kalmenhof, hier online verfügbar.
„Kindereuthanasie“ auf dem Kalmenhof (1941(?)–1945)
Im Sommer 1939 formierte sich der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“. Hinter diesem Namen verbarg sich eine Tarnorganisation. Sie gehörte zu der Adolf Hitler unterstellten Kanzlei des Führers der NSDAP und wurde vom Reichsministerium des Innern unterstützt. Die eigentliche Aufgabe des „Reichsausschusses“ war die Erfassung und Auswahl möglicher Opfer sowie die Organisation eines zentral gesteuerten Mordprogramms: der „Kindereuthanasie“.
Kurz vor Kriegsbeginn 1939 versandte das Reichsministerium des Innern einen vertraulichen Erlass: Hebammen, Ärztinnen und Ärzte waren verpflichtet, den jeweiligen Gesundheitsämtern Säuglinge und Kleinkinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu melden – angeblich zur „Klärung wissenschaftlicher Fragen“.
Die eingereichten Meldebögen wurden gesammelt und an die ärztlichen Gutachter des „Reichsausschusses“, Werner Catel, Ernst Wentzler und Hans Heinze, weitergegeben. Ohne die betroffenen Kinder gesehen zu haben, urteilten sie über ihr Leben. Die Kinder, deren Tod entschieden wurde, brachte man in eine der über 30 sogenannten „Kinderfachabteilungen“, die zwischen 1940 und 1945 in Kliniken oder Heil- und Pflegeanstalten eingerichtet wurden. Eine davon befand sich auf dem Kalmenhof. In Zweifelsfällen fand in der „Kinderfachabteilung“ selbst eine weitere „Beobachtung“ statt, an deren Ende entweder die Entlassung oder Ermordung des Kindes stand.
Schrittweise hob man die Altersgrenze an, sodass später auch Jugendliche zu den Verfolgten und Ermordeten zählten.
Bis Kriegsende töteten Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte in diesen „Kinderfachabteilungen“ über 5.000 Menschen. Sie verabreichten ihnen überdosierte Medikamente oder ließen sie verhungern.
Das genaue Einrichtungsdatum der „Kinderfachabteilung“ in Idstein ist unbekannt. Täterinnen und Täter haben vor Kriegsende wichtige Beweise vernichtet. Vermutlich fiel die Entscheidung für die Einrichtung in den letzten Monaten des Jahres 1941. Das Personal schien zu diesem Zeitpunkt schon gefunden zu sein: Die Ärztin Mathilde Weber (1909–1989) und zwei Krankenschwestern, Frieda Windmüller (1879– unbek.) und Maria Müller (1899–unbek.), wurden mit der „Kindereuthanasie“ betraut.
Da die Heilerziehungsanstalt zeitgleich Standort eines Lazaretts war, stand im Kalmenhof-Krankenhaus nur begrenzt Platz zur Verfügung. Aus diesem Grund richteten die Verantwortlichen die „Kinderfachabteilung“ zunächst mit einigen Betten in den engen Räumlichkeiten des Dachgeschosses ein. Im Laufe der Zeit wurde das Töten auf weitere Stockwerke ausgeweitet.
Die ersten Kinder, die über das Meldeverfahren des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ für die „Kindereuthanasie“ auf dem Kalmenhof ausgewählt wurden, starben vermutlich in der ersten Jahreshälfte des Jahres 1942. Sie wurden im Krankenhaus mit überdosierten Medikamenten getötet, die meistens über das Essen verabreicht wurden.
Nachdem Mathilde Weber sich bei der Arbeit mit Tuberkulose infiziert hatte, gab sie Ende 1943 ihre Tätigkeit als Ärztin auf dem Kalmenhof auf. Ihr Nachfolger wurde Hermann Wesse (1912–1989), ebenfalls ein junger, im NS-Staat sozialisierter und in der „Kindereuthanasie“ erfahrener Arzt. Bis Kriegsende übernahm er zusammen mit den Krankenschwestern Maria Müller (1899–unbek.) und Aenne Wrona (1907–unbek.) die „Kinderfachabteilung“.
Eine Aussage über die genaue Opferzahl der „Kinderfachabteilung“ auf dem Kalmenhof lässt sich nicht treffen, auch weil die Grenzen zwischen „Kindereuthanasie“ und dezentraler „Euthanasie“ fließend waren.
Literatur: Udo Benzenhöfer (2020): Kindereuthanasie in der NS-Zeit unter besonderer Berücksichtigung von Reichsausschussverfahren und Kinderfachabteilungen, Ulm.
Harald Jenner, Christoph Schneider (2018): Abschlussbericht des Forschungsprojekts zur Erhebung sowie Interpretation der historischen Kerndaten zum Verbrechenskomplex Kalmenhof, insbesondere der Lokalisierung der Tötungszimmer der „Kinderfachabteilung“ sowie der vermuteten Gräberfelder auf dem Kalmenhof, hier online verfügbar.
Dorothea Sick (1983): „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofs in Idstein im Taunus, Frankfurt.
Die Begräbnisplätze des Kalmenhofs
Die Leichen der Ermordeten des Kalmenhofs wurden zunächst zu der Leichenhalle neben dem anstaltseigenen Krankenhaus gebracht und von dort aus weiter zu ihrem Begräbnisplatz transportiert.
Bis Januar 1942 nutzte die Heilerziehungsanstalt den städtischen Friedhof in Idstein, um dort die Toten zu begraben. Von Ende 1939 bis Ende 1941 benötigte der Kalmenhof knapp 300 Grabplätze. Aufgrund dieser hohen Zahl sperrte die Stadt ab Anfang 1942 den Friedhof für die Heilerziehungsanstalt, die daraufhin einen anderen Begräbnisplatz finden musste.
Von Januar 1942 bis Oktober 1942 wich man auf den jüdischen Friedhof aus. Das Gelände war nach der Vertreibung der jüdischen Gemeinde von der Stadt Idstein beschlagnahmt und an den Kalmenhof verkauft worden. Vermutlich wurden dort über 50 „Zöglinge“ der Anstalt begraben.
Als auch dieser Platz nicht mehr ausreichte, errichtete man auf einem anstaltseigenen Acker, unweit vom Krankenhausgebäude, ein eigenes Gräberfeld. Ab Mitte Oktober 1942 bis Kriegsende wurden über 350 Menschen auf dieser Fläche verscharrt. Nach außen hin sollte der Anschein einer Grabanlage mit Einzelgräbern entstehen. Tatsächlich wurden die Gräber aber mehrfachbelegt.
Literatur: Harald Jenner, Christoph Schneider (2018): Abschlussbericht des Forschungsprojekts zur Erhebung sowie Interpretation der historischen Kerndaten zum Verbrechenskomplex Kalmenhof, insbesondere der Lokalisierung der Tötungszimmer der „Kinderfachabteilung“ sowie der vermuteten Gräberfelder auf dem Kalmenhof, hier online verfügbar.
Kai Mückenberger, Ferenc Kàntor (2022): Jüngste Untersuchungen auf dem Euthanasie-Gräberfeld Idstein „Kalmenhof“, in: Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hg.), hessen Archäologie 2021. Jahrbuch für Archäologie und Paläontologie in Hessen, Darmstadt, S. 299– 303.